Walter Diemingers Zeit von 1935 - 1945

Lassen Sie mich jetzt aber kurz den wissenschaftlichen Lebenslauf von Walter Dieminger darstellen, wie er sich nach 1935 ergab.

1937: Staatsprüfung zum Flugbaumeister. Die Ausbildung zum Flugbaumeister umfaßte Tätigkeiten bei der Erprobungsstelle der Luftwaffe, Tätigkeiten bei der Industrie (Telefunken, Lorenz) sowie eine fliegerische Ausbildung. Walter Dieminger hatte unterdessen auch die Fluglizenzen einschließlich Nacht- und Kunstflug erworben. Nur das Fliegen der Großmaschinen (damals JU 52) blieb ihm - als Brillenträger – verwehrt.

1937 – 1943: So wurde er bald wissenschaftlicher Mitarbeiter und Flugzeugführer bei der Erprobungsstelle der Luftwaffe in Rechlin (Mecklenburg), wo er die Entwicklung und Erprobung von Flugfunknavigationsverfahren bearbeitete und eine Ionosphärenbeobachtungsstelle einrichtete. Beides gewann mit dem Ausbruch des 2. Weltkrieges enorm an Bedeutung und führte schließlich zum Aufbau eines Funkberatungsdienstes, zunächst für die Luftwaffe, seit 1943 für die gesamte Wehrmacht. Die mit dieser Aufgabe betraute Arbeitsgruppe leitete Dr. Karl Rawer, der im Mai 1939 nach Rechlin zu Walter Diemingers Gruppe gekommen war.

Bemerkung zu diesen Arbeiten von Prof. Dr. Karl Rawer, dem ich hier herzlich für die wichtigen Ergänzungen und die kritische Durchsicht meines Textes danken möchte:

„Die Ausbreitungsbedingungen der wankelmütigen Kurzwelle ändern sich laufend, so daß für eine gegebene Verbindung der brauchbare Frequenzbereich sich nach Tages- und Jahreszeit verschiebt, und außerdem von Sonnen- und magnetischer Aktivität abhängig ist. Die Obergrenze dieses Bereiches hängt in erster Linie von der kritischen Frequenz der ionosphärischen F2-Schicht und von deren Höhe ab. Für deren Bestimmung hatte der Amerikaner Newbern Smith eine vom jeweiligen Ionogramm ausgehende Methode entwickelt, während Appleton und Beynon in England von einem parabolischen Schichtmodell angegangen waren. Walter Dieminger erkannte, daß für die Vorhersage von mittleren Monatswerten - zumindest beim damaligen Kenntnisstand und in Europa - die Annahme spiegelnder Reflektion ausreichend war. Dafür hatte er schon 1939 einen Frequenz-Entfernungsrechenschieber bauen lassen. Für die untere Grenze des brauchbaren Bereichs jedoch mußte Rawer eine neue Methode erarbeiten. Während die Amerikaner dazu globale "Erfahrungswerte" benutzten, war seine Theorie analytisch und betrachtete die verschiedenen Zick-zack-Wege jeden für sich. Für die Absorption in der D-Region benutzte er eine von Sonnenstand und jeweiligem Auftreffwinkel abhängige Formel. Neu war, daß er bei der Auswahl der Wege berücksichtigte, daß günstige flache Wege über die obere (F2-) Region möglicherweise verhindert wurden durch "Abdeckung", nämlich Reflektion in der unteren (E-) Region. Für die Weitergabe an die Benutzer ging er bald von Mittelwerten ab und gab - den jeweiligen statistischen Verteilungen folgend - Bereichsgrenzen für verschiedene Wahrscheinlichkeiten an. Damit waren die deutschen Vorhersagen ausgesprochen benutzerfreundlich. Während die Alliierten den Nutzern die Berechnung aus mitgeteilten Grunddaten zutrauten, wurden die deutschen Vorhersagen, für den jeweiligen Nutzer aufbereitet, als Diagramme verteilt. Dafür, daß das alles in engster Verbindung von Vorhersagedienst und Nutzern geschehen konnte, hatte Walter Dieminger gesorgt. Major Flesch, damals im Stab der Luftwaffe zuständig, verstand seine Argumente und akzeptierte eine Organisationsform der Funkberatung, die - vom üblichen Dienstweg abweichend - direkte Kontakte der Nutzer mit der Beratungsstelle zuließ. Davon wurde ausgiebig Gebrauch gemacht. Ausgezeichnet war später auch die Zusammenarbeit mit der Marine. Beim Heer dagegen beharrte man auf der Einhaltung des schwerfälligen Dienstweges, bis 1944 als während einer Großoperation) eine (vom Beratungsdienst angekündigte) ionosphärische Störung die Verbindungen der Kommandozentralen zur Truppe für Stunden unterbrach. In einer weiteren, unterstützenden Aktivität Walter Diemingers ging es um die Rechtfertigung der analytischen Vorhersagemethode gegenüber "alten Funkhasen" in den Stäben, die sich auf eigene Erfahrung beriefen. Durch Langzeitregistrierung auf Teststrecken im Impulsbetrieb wurde die analytische Methode geprüft. Schon 1939 hatte Walter Dieminger eine Nord-Süd Strecke über eine Entfernung von etwa 500 km eingerichtet. Später kam eine 1200 km lange Ost-West- Strecke hinzu. Schließlich gab es Kritiker, die eine Ausbreitung auf Zick-zack-Wegen bezweifelten und in Analogie zur Akustik eine Fernausbreitung durch Kopfwelle annahmen. Sie beriefen sich auf 1938/39 von Telefunken durchgeführte Einfallswinkelmessungen im Transatlantikverkehr. Walter Dieminger sorgte dafür, daß diese Messungen 1944 wiederholt wurden. Im Gegensatz zur akustischen Vorstellung ergab sich eine erhebliche Verschiebung der Obergrenze nach unten, die sich zwanglos durch die Veränderung der kritischen Frequenz im Sonnenfleckenzyklus erklärte“.

1943 – 1945: Leitung der Zentralstelle für Funkberatung (Z.f.F) in Leobersdorf in Niederösterreich. Herausgabe von Funkvorhersagen für die deutsche Wehrmacht.

Bemerkungen von Prof. Dr. K. Rawer:

„Auch die Verbände der Waffen SS gehörten zur Wehrmacht und erhielten die gleichen Vorhersagen. Damit gab es 1943 für Walter Dieminger ernste Probleme als auf Weisung von Flesch, Vorhersagen für den SS-Horchdienst "Seehaus" über den Nachrichtengeneral der Waffen-SS geleitet wurden. Walter Dieminger  wurde Verstoß gegen Geheimhaltung vorgeworfen mit entsprechenden Maßnahmen! So ganz einvernehmlich war man eben auch in der SS nicht, es gab erhebliche Spannungen“.

Diese Z.f.F. richtete im Laufe des Krieges ein fast ganz Europa – von Nordnorwegen bis Sizilien und vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer - überstreichendes Netz von Beobachtungsstationen ein, die mit ihren Ionosonden und Magnetfeld-Meßgeräten die für eine Funkberatung nötigen Unterlagen lieferten. Zur Verbesserung der Prognosen wurden auch Ergebnisse anderer Disziplinen mit herangezogen: Beobachtungen der Sonnenaktivität (Karl-Otto Kiepenheuer), des Erdmagnetischen Feldes (Julius Bartels) und des Nordlichtes. Walter Dieminger wurde im Laufe des Krieges zum Stabsingenieur ernannt, und zwar nicht auf Kriegsdauer (a.K), sondern des Beurlaubtenstandes (d.B.). Die d.B.s hatten, im Gegensatz zu den "a.K.s", volle Rechte und normale Rangabzeichen - das war damals wichtig. Anders als bei den Alliierten waren die Ingenieure nicht Offiziere sondern Wehrmachtsbeamte. Damit konnten sie keine direkt wirksamen Befehle geben, nur indirekt über eine allgemeine Weisung des für die betr. Soldaten zuständigen Offiziers. (Ungehorsam war also keine "Befehlsverweigerung"). Beim damaligen Personal gab es verschiedenste Kategorien, von Soldaten über LN-Helferinnen, Wehrmachtsbeamte, Zivilangestellte bis zu russischen Kriegsgefangenen. Walter Dieminger "unterstellt" waren nur Beamte und Zivilangestellte, die anderen Kategorien waren militärisch unterstellt. Er trug Verantwortung für etwa 300 Personen.

Nach dem Urteil der Fachleute, auch auf der Seite der damaligen Feindmächte, hatte die Z.f.F. sehr erfolgreich gearbeitet. (Walter Dieminger und Rawer, 1943). Sein heute wohl international bekanntester Mitarbeiter von damals, Prof. Dr. Karl Rawer, ist der „Vater“ der Internationalen Referenz-Ionosphäre. Er hat nicht nur lange Jahre ein Ionosphäreninstitut in der Nähe von Freiburg geleitet, sondern selbst und mit seinen ehemaligen Schülern, die sehr erfolgreich im In- und Ausland Ionosphärenforschung betreiben oder betrieben haben, auch ganz wesentlich den wissenschaftlichen Geist von Kleinheubach mitbestimmt (Rawer und Bilitza, 1989, Rawer und Bilitza, 1995). Hier sind außerdem die Mitarbeiter des ehemaligen Fernmeldetechnischen Zentralamtes (FTZ) der deutschen Bundespost zu nennen, die sich besonders für und in Kleinheubach engagiert haben.

1945: Ende des II. Weltkrieges und Kapitulation in Ried im Innkreis.

Bemerkung von Prof. Dr. K. Rawer:

„Als die Amerikaner noch bei München standen, wurde der "militärische Teil der Z.f.F." (zu dem ich damals gehörte) nach der DVL-Station Kochel verlegt. Dort kamen wir im April 45 mit je etwa einem Dutzend Soldaten und Helferinnen an. Als die Amerikaner vorstießen, wurden zunächst die Helferinnen auf einem sicheren Weg auf die andere Seite gebracht. Dann erst kapitulierte OLt. Gockel. Einigen, darunter Herrn Harnischmacher und mir, überließ er es, den Versuch zu wagen, auf eigene Faust durchzukommen. In Ried waren Walter Diemingers "Zivilisationsbemühungen" erfolgreich, und zwar unter Ablösung des militärischen Teils. Die Z.f.F. wurde nicht als militärische Einrichtung eingestuft. Sie unterstand ja dem "Bevollmächtigten der HF-Forschung", damals Prof. Esau.